BGer 4A_396/2022 vom 7. Oktober 2023 (Leitentscheid): Ordentliche Kündigung wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit
Key takeaways
- Das Bundesgericht bestätigt den arbeitsrechtlichen Grundsatz der Kündigungsfreiheit auch für Kündigungen wegen Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit nach Ablauf der Sperrfrist.
- Selbst wenn ein Konflikt am Arbeitsort zu einer psychischen Erkrankung eines Arbeitnehmenden führt, ist die Kündigung nach Ablauf der Sperrfrist grundsätzlich nicht missbräuchlich. Nur in Ausnahmefällen, in denen der Arbeitgeber die Krankheit direkt auslöste, kann die Kündigung missbräuchlich sein.
- Das Bundesgericht stellt sich mit diesem Leitentscheid gegen den in der Praxis häufig anzutreffenden Reflex, eine Kündigung auf Grund einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit automatisch als missbräuchlich zu rügen.
Was ist geschehen?
Die Arbeitgeberin, eine Stiftung, stellte den Arbeitnehmer ab dem 1. Dezember 2008 als Koch ein. Nach einer Beförderung im September 2015 übernahm der Arbeitnehmer im Dezember 2016 für etwas mehr als einen Monat allein die Verantwortung für die Küche und das Küchenteam. Im Februar 2017 stellte die Arbeitgeberin einen neuen Küchenchef ein. Das Verhältnis zwischen dem neuen Küchenchef und dem Arbeitnehmer war von Kommunikationsproblemen und Konflikten geprägt. Im März 2017 wurde der Arbeitnehmer eine Woche lang arbeitsunfähig; im April 2017 fand ein Gespräch zwischen der Geschäftsführerin, dem Arbeitnehmer und dem neuen Küchenchef statt. In diesem Gespräch gab der Arbeitnehmer an, dass seine Krankschreibung zum Teil auf die Arbeit zurückzuführen sei. Er bemängelte ein Gefühl des "Überdrusses" und des Freiheitsverlustes beim Kochen, eine kalte Atmosphäre im Team sowie ein Empfinden des mangelnden Vertrauens des Küchenchefs gegenüber dem Team.
Der Arbeitnehmer hatte seine Ziele laut einer Beurteilung Ende 2017 nicht erreicht. Die Arbeitgeberin entzog ihm daraufhin die Stelle als Souschef mit Wirkung per 28. Februar 2018. Im April 2018 und alsdann im Jahresgespräch im Februar 2019 erfolgten weitere negative Beurteilungen des Arbeitnehmers.
Vom 22. März 2019 bis zum 31. Januar 2020 war der Arbeitnehmer krankgeschrieben. Laut ärztlichen Bescheinigungen litt der Arbeitnehmer an einer physischen und psychischen Erschöpfung aufgrund der offenen Konfliktsituation mit dem Küchenchef. Diese äusserte sich durch schwere Schlaflosigkeit mit Albträumen, übersteigerten Ängsten, Gewichtsverlust und chronischen Durchfall. Die Arbeitgeberin kündigte den Arbeitsvertrag am 24. September 2019 mit Wirkung zum 31. Dezember 2019 (nach Ablauf der 180-tägigen Sperrfrist). Die Arbeitgeberin begründete die Kündigung später damit, dass die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers über die Schutzfrist von Art. 336c OR hinaus fortbestanden habe.
Der Arbeitnehmer klagte auf Bezahlung einer Entschädigung von CHF 25'000, da die Kündigung missbräuchlich gewesen sei. Das Arbeitsgericht des Bezirks Waadt Ost (Tribunal de prud'hommes de l'arrondissement de l'Est vaudois) wies die Klage ab, das Obergericht des Kantons Waadt (Cour d'appel civile du Tribunal cantonal du canton de Vaud) dagegen gut. Die Arbeitgeberin legte gegen dieses Urteil Beschwerde in Zivilsachen beim Bundesgericht ein.
Was erwog und entschied das Bundesgericht?
Strittig war insbesondere, ob die ordentliche Kündigung der Arbeitgeberin vom 24. September 2019 mit Wirkung auf den 31. Dezember 2019, also nach Ablauf der Schutzfrist, missbräuchlich im Sinne von Art. 336 OR war.
Grundsatz der Kündigungsfreiheit
Das Bundesgericht rief vorerst ins Gedächtnis, dass das schweizerische Arbeitsrecht auf der Kündigungs- und Vertragsfreiheit beruht. Folglich können beide Parteien ein unbefristetes Arbeitsverhältnis kündigen, sofern sie die vereinbarte oder gesetzlich vorgeschriebene Kündigungsfrist und der Kündigungstermin einhalten.
Im Falle der Krankheit einer/eines Arbeitnehmenden
Gemäss Bundesgericht darf die Arbeitgeberin den Arbeitsvertrag nach Ablauf der Sperrfrist kündigen, wenn die/der Arbeitnehmende an einer anhaltenden, arbeitsverhindernden Krankheit leidet. Nur in sehr krassen Situationen ("situations très graves") ist die Kündigung aufgrund Krankheit missbräuchlich. Dies ist dann der Fall, wenn eine Arbeitgeberin die Krankheit nachweislich direkt verursachte, z.B. wenn sie Massnahmen zum Schutz der Arbeitnehmenden unterliess und die/der Arbeitnehmende deshalb krank wurde. Eine Arbeitsunfähigkeit aufgrund einer psychischen Erkrankung erreicht diesen Schweregrad häufig nicht, weshalb die Kündigung dann nicht missbräuchlich ist.
Schwierigkeiten am Arbeitsplatz können häufig zu Depressionen oder anderen psychischen Störungen führen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Krankheit direkt durch die Arbeitgeberin verursacht wurde. In der Regel muss die Tatsache, dass ein Konflikt mit einem neuen Vorgesetzten zu einer Arbeitsunfähigkeit führen kann, nicht berücksichtigt werden. Denn solche Konfliktsituationen kommen häufig vor und erreichen meistens nicht den Schweregrad, der für die Annahme einer missbräuchlichen Kündigung erforderlich ist.
Das Bundesgericht entschied, dass die vorliegende Kündigung grundsätzlich nicht missbräuchlich sei, weil die Arbeitgeberin aufgrund einer über die Sperrfrist hinausgehenden krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit ordentlich kündigte. Dennoch prüfte es das Vorliegen eines krassen Falles, wie er oben beschrieben wird. Es verneinte einen solchen, da die Arbeitgeberin die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers nicht direkt verursacht hatte. Es lag auch keine psychische Belästigung oder Mobbing vor. Die vorliegende Konfliktsituation mit dem Küchenchef erreichte nicht die erforderliche Schwere, um eine missbräuchliche Kündigung anzunehmen. Die Arbeitgeberin musste auch nicht nachweisen, dass sie Massnahmen ergriffen hatte, um diesen Konflikt zu lösen.
Das Bundesgericht stufte die Kündigung als nicht missbräuchlich ein und hiess die Beschwerde der Arbeitgeberin somit gut.
Wieso ist dieser Entscheid wichtig?
In der Praxis kommt es nach Ablauf der Sperrfrist häufig zu Kündigungen, insbesondere wenn die Arbeitsunfähigkeit fortdauert. Zudem sind psychische Probleme oder Erkrankungen regelmässig Ursachen von Langzeitarbeitsunfähigkeit. Die Arbeitnehmenden bringen diese psychischen Probleme oft mit Konflikten mit Vorgesetzten, Diskussionen oder Problemen am Arbeitsplatz in Verbindung.
Der vorliegende Leitentscheid des Bundesgerichts klärt für solche Fälle, dass eine Kündigung nach Ablauf der Sperrfrist nur im Ausnahmefall missbräuchlich sein kann. Selbst bei Langzeitarbeitsunfähigkeit gilt im Grundsatz die Kündigungsfreiheit. Eine missbräuchliche Kündigung ist selbst dann nicht anzunehmen, wenn ein Konflikt am Arbeitsort mit einer psychischen Erkrankung im Zusammenhang steht und die/der Arbeitnehmende aus diesem Grund arbeitsunfähig wird. Nur wenn die Arbeitgeberin die Krankheit direkt verursachte, kann die Kündigung missbräuchlich sein.
Das Bundesgericht stellt sich mit diesem Leitentscheid klar gegen den in der Praxis häufig anzutreffenden Reflex, eine Kündigung auf Grund einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit automatisch als missbräuchlich zu rügen.
Autorin/Autoren: Andreas Lienhard (Partner), Martina Herzog (Associate), Ioannis Meili (Junior Associate)
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