Ausgewählte Neuerungen im Rahmen der VAG-Teilrevision (Teil 1/3): Gebundenes Vermögen
Key takeaways
- Zeitgleich mit dem teilrevidierten Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) sollen die nachgelagerten Durchführungsbestimmungen, die revidierte Versicherungsaufsichtsverordnung (AVO) zusammen mit den überarbeiteten Erlassen der FINMA, der Versicherungsaufsichtsverordnung-FINMA (AVO-FINMA) sowie den neu gefassten Rundschreiben, per 1. Januar 2024 in Kraft treten.
- Aktuell findet die Totalrevision AVO-FINMA sowie diverser Rundschreiben (fünf werden weitergeführt, sieben werden aufgehoben) statt. Die dazugehörige Anhörung läuft vom 22. August bis 22. November 2023.
- Bei den Anlagebestimmungen für die Verwaltung des gebundenen Vermögens stechen einzelne Flexibilisierungen bei den Anlagebegrenzungen und beim Einsatz von Derivaten ins Auge.
Einleitung
Am 1. Januar 2024 tritt das teilrevidierte Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) in Kraft. Damit darf die Generalüberholung der Schweizer Finanzmarktgesetzgebung als (vorläufig) abgeschlossen gelten (zur bereits geplanten Revision des 2016 in Kraft getretenen Finanzmarktinfrastrukturgesetzes (FINFRAG) siehe unser Legal Update vom 11. Oktober 2022). Das neue VAG wurde punktuell angepasst und nachgeführt, um die Wettbewerbsfähigkeit des schweizerischen Versicherungsplatzes zu stärken. Zu den wesentlichen Neuerungen gehören die neu gefassten Bestimmungen zur Solvabilität, die Förderung der Innovation durch Einführung einer "Sandbox", die Liberalisierung des versicherungsfremden Geschäfts, eine Verstärkung des Rückversicherungshubs Schweiz sowie die Einführung eines Sanierungsrechts als Alternative zum Konkurs nach dem Vorbild der Bankengesetzgebung. Im Zuge der Gesetzesarbeiten zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) hat das Parlament entschieden, dass die Verhaltenspflichten des FIDLEG nicht direkt auf Versicherungsunternehmen Anwendung finden, sondern ins VAG aufgenommen werden sollen. Entsprechend finden sich im neuen VAG u.a. die Verhaltensregeln für Versicherungsvermittler zur Qualitätssicherung im Vertrieb. Nachdem das Parlament am 18. März 2022 in der Schlussabstimmung den Text des revidierten VAG angenommen hatte, konnten die Arbeiten an den nachgeordneten Rechtsakten an die Hand genommen werden. Die revidierte Versicherungsaufsichtsverordnung (AVO) wird zusammen mit den überarbeiteten Erlassen der FINMA, der Versicherungsaufsichtsverordnung-FINMA (AVO-FINMA) sowie den neu gefassten Rundschreiben, ebenfalls am 1. Januar 2024 in Kraft treten.
Durchführungserlasse mit mehr Flexibilität
Übersicht
Auf der ersten nachgelagerten Stufe veröffentlichte das eidgenössische Finanzdepartement (EFD) am 17. Mai 2022 den Entwurf zur neuen AVO. Die Vernehmlassung dauerte bis zum 7. September 2022 und wurde von den interessierten Kreisen rege zur Einreichung von Stellungnahmen benutzt.
Die revidierte AVO soll die genannten Ziele der Teilrevision des VAG umsetzen. Dazu gehören insbesondere die Implementierung von Erleichterungen bzw. die Befreiung kleiner Versicherungsunternehmen von der Aufsicht, die Einführung von Verhaltensregeln im Zusammenhang mit dem Vertrieb von qualifizierten Lebensversicherungen sowie die Konkretisierung der Anforderungen an die Versicherungszweckgesellschaft.
Auf der zweiten nachgelagerten Stufe findet aktuell die Totalrevision AVO-FINMA sowie diverser Rundschreiben (fünf werden weitergeführt, sieben werden aufgehoben) statt. Die dazugehörige Anhörung läuft vom 22. August bis 22. November 2023.
FINMA Erlasse
Die FINMA schlägt vor, unter anderem ihre Anforderungen an den SST, zum gebundenen Vermögen und zu den versicherungstechnischen Rückstellungen anzupassen. Diese Themen sollen neu hauptsächlich in der AVO-FINMA statt in den einschlägigen Rundschreiben geregelt werden. Bezüglich des SST wurde dieser Schritt bereits in der Botschaft zum teilrevidierten VAG vorgezeichnet. Dies ermöglichte es der FINMA, insgesamt fünf Rundschreiben abzuschaffen, während andere Rundschreiben stark gekürzt würden. Ferner beinhalten die Arbeiten Anpassungen betreffend die Umsetzung der Transparenzvorschriften für Lebensversicherungen, technische Aspekte zur Aufsicht über Versicherungsvermittler (Verhaltensregeln sind eine der Hauptneuheiten im revidierten VAG) und die Aufgaben des verantwortlichen Aktuars.
Anlagerichtlinien für das gebundene Vermögen
Zu den sieben Rundschreiben, die im Zuge der Revisionsarbeiten aufgehoben werden sollen, zählt das FINMA-Rs. 16/5 „Anlagerichtlinien – Versicherer“ vom 3. Dezember 2016 (zuletzt revidiert am 1. Januar 2018).
Die Vorschriften zum gebundenen Vermögen sind in Art. 20 VAG gesetzlich verankert. Dieser Artikel wird im neuen Recht in redigierter Form beibehalten. Neu aufgenommen wird der Grundsatz der unternehmerischen Vorsicht (vgl. für die EU Art. 132 der Solvency-II-Rahmenrichtlinie und für Deutschland § 124 Versicherungsaufsichtsgesetz). Dem Grundsatz der unternehmerischen Vorsicht ("Prudent Person Principle" oder "PPP") zufolge dürfen Versicherer lediglich in Vermögenswerte investieren, deren Risiken das betreffende Unternehmen angemessen erkennen, messen, überwachen und steuern kann. Sämtliche Vermögenswerte sind auf eine Art und Weise anzulegen, welche die Sicherheit, Qualität, Liquidität und Rentabilität des gesamten Portfolios gewährleistet. Als eine Konsequenz der Einführung des PPP wird die Kapitalanlage als solche nicht mehr wie bisher im FINMA Rs. 16/5 durch externe quantitative Vorschriften eingeschränkt werden (so bisher z.B. 20% für Fremdwährungen, 30% für Aktien oder 25% für Immobilien). Der Versicherer soll stattdessen einen internen Anlagekatalog erstellen, der sein Anlageuniversum beschreibt und eigene Begrenzungen definiert, die bei der Kapitalanlage einzuhalten sind.
Die neuen Ausführungsbestimmungen zu den Anlagen im gebundenen Vermögen werden als Art. 75a ff. AVO eingeschoben. Sie ersetzen im Wesentlichen die Bestimmungen zu den Anlagerichtlinien aus dem FINMA-Rundschreiben. Nach dem revidierten Art. 79 Abs. 1 AVO können Versicherer neu der FINMA eine Liste mit Vermögenswerten zur Genehmigung einreichen, die in das Anlageuniversum für das gebundene Vermögen aufgenommen werden dürfen. Bislang ist diese Liste von der Verordnung vorgegeben. Im Rahmen des neu gefassten Art. 83 AVO erhalten diese Versicherer die Flexibilität, die quantitativen Anlagebegrenzungen eigenständig festzulegen, solange sie die Umsetzung des PPP gewährleisten können.
Vergleich mit Bestimmungen der beruflichen Vorsorge
Im Bereich der beruflichen Vorsorgen finden sich umfangreiche Anlagebeschränkungen in den Art. 50 ff. der Verordnung über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVV 2), welche in den letzten Jahren wiederholt ergänzt wurden (z.B. zuletzt durch die Zulassung von Infrastrukturanlagen). Eine 2021 eingereichte Motion mit dem Titel "Sichere Renten dank umfassend kompetenter Verwaltung der Pensionskassengelder" sah u.a. vor, dass der heutige Grundsatz der Risikoverteilung mit einem umfassenden Risikomanagement ergänzt werden sollte, wobei wie jetzt im VAG die starren Kategorienbegrenzungen wegfallen sollten. Die Einführung des PPP in der beruflichen Vorsorge hätte diese Idee umsetzen können, die Motion wurde jedoch im Jahre 2023 abgelehnt. Nichtsdestotrotz bietet Art. 50 Abs. 4bis BVV 2 den Vorsorgeeinrichtungen bereits heute eine gewisse Flexibilität, die mit der neuen Regelung von Art. 83 Abs. 2 AVO teilweise vergleichbar ist (Ausnahmebewilligung statt vorgängige Genehmigung).
Vorschriften zu Derivaten
Grundsätzlich sind Derivate bereits unter dem aktuellen Recht für das gebundene Vermögen zulässig. Das strikt angewandte Deckungsprinzip stellt jedoch ein relativ enges Korsett dar. Die neu gefassten Art. 100 der revidierten AVO bzw. die nun vorgeschlagenen Art. 65 ff E-AVO-FINMA sind gegenüber stärker prinzipienhaft formuliert, so dass die Regelung insgesamt stark entschlackt werden konnte. Die Deckungspflicht zur Vermeidung einer Hebelwirkung auf das gebundene Vermögen (Art. 100 AVO, Art. 65 AVO-FINMA) wird beibehalten. Die Regelungen zur Messung der Hebelwirkung soll sich nun weitgehend am Commitment-Ansatz I gemäss der Kollektivanlageverordnung der FINMA (KKV-FINMA) ausrichten, was zu einer grösseren Konsistenz in der Regulierung vergleichbarer Tatbestände führen mag. Insbesondere dürfen gegenläufige Engagement u.U. verrechnet werden (Art. 69 Abs. 2 E-AVO-FINMA).
Nächste Schritte
Die Anhörung zur AVO-FINMA läuft noch bis zum 22. November 2023. In Zukunft werden die Versicherer gehalten sein, ihre Anlageprozesse entsprechend anzupassen, d.h. insbesondere ihr Anlageuniversum zu dokumentieren, wenn sie von der zusätzlichen Flexibilität profitieren wollen.
In der zweiten Folge unseres Legal Updates zum revidierten VAG werden wir die neuen Verhaltensregeln für Versicherungsvermittler behandeln.
Contributors: Andrea Huber (Partner), Markus Winkler (Counsel)
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