BGer 4A_486/2024 vom 15. Januar 2025: Fristlose Entlassung wegen unterbliebener Einreichung von Arztzeugnissen | Pestalozzi Attorneys at Law

BGer 4A_486/2024 vom 15. Januar 2025: Fristlose Entlassung wegen unterbliebener Einreichung von Arztzeugnissen

25.03.2025

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Key takeaways

  • Das Bundesgericht betont die Pflicht von Arbeitnehmenden zur raschen, kontinuierlichen sowie vollständigen Information über Absenzen, insbesondere bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit.
  • Verletzt ein Arbeitnehmer wiederholt diese Informationspflicht und hat der Arbeitgeber bereits arbeitsrechtliche Konsequenzen angedroht, so kann eine fristlose Entlassung gerechtfertigt sein. Der Grund liegt darin, dass der Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse hat, möglichst rasch über allfällige Absenzen und deren Dauer informiert zu sein, damit er entsprechende Massnahmen ergreifen und abwesenheitsbedingte Schäden abwehren kann.
  • Zu beachten sind jedoch stets die Umstände des konkreten Einzelfalls: Eine wiederholte Verletzung der Informationspflicht durch den Arbeitnehmer vermag nicht in jedem Fall eine fristlose Kündigung zu rechtfertigen.  

Was ist geschehen?

A (Arbeitnehmerin) war seit dem 1. August 2020 bei der B AG (Arbeitgeberin) als Head-Brauerin für die Bierherstellung angestellt. Am 27. Oktober 2021 kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis ordentlich per 31. Januar 2022.

Am Dienstag, 2. November 2021 meldete sich die Arbeitnehmerin krank. Sie informierte die Arbeitgeberin am Freitag, 5. November 2021 darüber, dass sie frühestens am Montag, 8. November 2021 einen Arzt aufsuchen könne.

Am Montag, 8. November 2021 verlangte der Verwaltungsratspräsident der Arbeitgeberin von der Arbeitnehmerin, dass diese am nächsten Tag um 11.00 Uhr mit einem Arztzeugnis am Arbeitsplatz erscheine oder ihn bei Verhinderung entsprechend informiere und ein Arztzeugnis vorlege. Die Arbeitnehmerin antwortete, dass sie nicht am Arbeitsplatz erscheinen werde und ein Arztzeugnis folgen werde. Noch am gleichen Tag forderte der Verwaltungsratspräsident die Arbeitnehmerin nochmals auf, ihm eine Begründung für ihre Abwesenheit und die Absage des Termins um 11.00 Uhr zu liefern und forderte sie auf, zur ordentlichen Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses beizutragen und ihren vertraglichen Pflichten nachzukommen.

Am Dienstag, 9. November 2021, forderte der Verwaltungsratspräsident die Arbeitnehmerin erneut auf, eine korrekte Arbeitsleistung zu erbringen oder ihm eine ärztliche Begründung für ihre Abwesenheit zu liefern und verlangte wiederum ein Arztzeugnis. Gleichzeitig drohte er der Arbeitnehmerin weitere Massnahmen wie die Einstellung der Lohnzahlung für die Fehltage und die fristlose Kündigung an.

Die Arbeitnehmerin reichte am Mittwoch, 10. November 2021 ein Arztzeugnis ein, welches ihr bereits am Montag, 8. November 2021 ausgestellt wurde. Dieses bescheinigte ihre Arbeitsunfähigkeit bis zum Donnerstag, 11. November 2021. Daraufhin erkundigte sich die Arbeitgeberin bei der Arbeitnehmerin, ob diese ab dem Freitag, 12. November 2021 wieder einsatzfähig sei. Die Arbeitnehmerin antwortete, dass sie nach ihrem Arzttermin am 12. November 2021 weitersehen werde, meldete sich jedoch bis und mit Montag, 15. November 2021 nicht mehr bei ihrer Arbeitgeberin.

Am Montag, 15. November 2021 spätabends kündigte die Arbeitgeberin daher das Arbeitsverhältnis mit der Arbeitnehmerin fristlos.  Am Donnerstag, 18. November 2021 reichte die Arbeitnehmerin ein undatiertes Arztzeugnis ein, wonach sie ab Freitag, 12. November 2021 zu 100 % arbeitsunfähig sei.

Die Arbeitnehmerin klagte beim Bezirksgericht ohne Erfolg unter anderem auf Entschädigung wegen ungerechtfertigter fristloser Entlassung. Die Berufung an das Obergericht sowie die Beschwerde an das Bundesgericht blieben ebenfalls erfolglos.

Was erwog und entschied das Bundesgericht?

Das Bundesgericht hatte zu beurteilen, ob die Voraussetzungen für die fristlose Kündigung gegeben waren und diese damit gerechtfertigt war oder nicht.

Die fristlose Entlassung nach Art. 337 OR  

Zunächst erläuterte das Bundesgericht die gesetzliche Grundlage der fristlosen Kündigung und die dazugehörige Rechtsprechung:

Nach Art. 337 OR kann der Arbeitgeber wie der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis jederzeit aus wichtigen Gründen fristlos auflösen (Abs. 1). Als wichtiger Grund gilt namentlich jeder Umstand, bei dessen Vorhandensein dem Kündigenden nach Treu und Glauben die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zugemutet werden darf (Abs. 2). Über das Vorhandensein solcher Umstände entscheidet das Gericht nach seinem Ermessen, wobei es die unverschuldete Verhinderung des Arbeitnehmers an dessen Arbeitsleistung (z.B. wegen Krankheit) nicht als wichtigen Grund anerkennen darf (vgl. Abs. 3).

Gemäss Rechtsprechung ist eine fristlose Kündigung durch den Arbeitgeber nur bei besonders schweren Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers gerechtfertigt, welche die für das Arbeitsverhältnis wesentliche Vertrauensgrundlage zerstören oder zumindest so tiefgreifend erschüttern, dass dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Vertrags nicht mehr zuzumuten ist. Weniger schwerwiegende Verfehlungen können eine fristlose Kündigung nur rechtfertigen, wenn sie trotz Verwarnung wiederholt vorkamen. Ob die Verfehlungen des Arbeitnehmers eine fristlose Entlassung rechtfertigen, hängt stets von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab, wobei die gesetzlichen und vertraglichen Pflichten des Arbeitnehmers zu beachten sind.

Pflichten des Arbeitnehmers

Zur gesetzlichen Treuepflicht des Arbeitnehmers gehört die sog. Informationspflicht, wonach der Arbeitnehmer verpflichtet ist, seinem Arbeitgeber vorhersehbare Absenzen möglichst frühzeitig und unvorhersehbare Absenzen unverzüglich nach deren Eintritt mitzuteilen. Das gilt auch bei Abwesenheiten wegen Krankheit oder Unfall. In diesen Fällen ist der Arbeitnehmer verpflichtet, von sich aus den Arbeitgeber unverzüglich über die voraussichtliche Dauer und den Umfang der Arbeitsunfähigkeit zu informieren, sobald der Gesundheitszustand dies zulässt. Dies gilt nicht nur für den Beginn der Abwesenheit, sondern für die ganze Dauer: Der Arbeitnehmer muss seinen Arbeitgeber stets rasch, kontinuierlich und vollständig über seine Arbeitsunfähigkeit bzw. deren Prognose oder Änderungen berichten. Dies gilt vor allem für Arbeitnehmer mit einer zentralen Funktion im Unternehmen. Nur dadurch kann der Arbeitgeber organisatorische Massnahmen zur Verhinderung von Schäden aufgrund Abwesenheiten treffen.

Bedeutung im konkreten Fall

Neben der Arbeitnehmerin als Head-Brauerin arbeitete nur eine weitere festangestellte Bierbrauerin im Betrieb der Arbeitgeberin, der sich Anfang November aufgrund der nahenden Weihnachtszeit in einer besonders arbeitsintensiven Phase befand. Die Arbeitgeberin hatte daher ein berechtigtes Interesse, möglichst frühzeitig zu erfahren, wann die Arbeitnehmerin wieder einsatzfähig sein würde.

Trotzdem verletzte die Arbeitnehmerin ihre Informationspflicht gleich zweimal: Am Montag, 8. November 2021 erhielt die Arbeitnehmerin ein Arztzeugnis, welches sie jedoch nicht sofort weiterleitete. Stattdessen informierte sie ihre Arbeitgeberin lediglich darüber, dass sie ein solches Dokument vorlegen werde, ohne eine konkrete Angabe zur Dauer ihrer Arbeitsunfähigkeit zu machen. Dadurch liess sie ihre Arbeitgeberin im Unklaren und erschwerte die betriebliche Planung. Nach einem weiteren Arztbesuch am Freitag, 12. November 2021, versäumte sie es erneut, die Arbeitgeberin über ihre weiterhin bestehende Arbeitsunfähigkeit zu informieren. Vier Tage lang meldete sie sich nicht, bis sie am Montag, 15. November 2021 fristlos entlassen wurde. Sie konnte zudem nicht darlegen, dass sie in dieser Zeit krankheitsbedingt oder aus anderen Gründen nicht in der Lage gewesen wäre, Kontakt zur Arbeitgeberin aufzunehmen.

Die Arbeitnehmerin missachtete dadurch ihre Pflicht zur raschen, kontinuierlichen sowie vollständigen Information. Dieses Verhalten stellte einen wichtigen Grund für eine fristlose Entlassung dar.  

Es genügte vorliegend auch, dass die Arbeitgeberin die fristlose Entlassung nur einmal, nämlich am Dienstag, 9. November 2021, androhte. Diese Androhung galt für die ganze Restdauer des Arbeitsverhältnisses, und der Arbeitnehmerin waren damit die einschneidenden arbeitsrechtlichen Konsequenzen bei erneuter Verletzung ihrer Informationspflicht bewusst.

Schliesslich kam das Bundesgericht zum Schluss, dass die fristlose Kündigung nicht zu beanstanden ist und somit gerechtfertigt war.

Wieso ist dieser Entscheid wichtig?

Dieser Bundesgerichtsentscheid hebt deutlich die Informationspflicht des Arbeitnehmers hervor und betont dessen Relevanz, insbesondere bei krankheitsbedingten Abwesenheiten. Es wird verdeutlicht, dass der Arbeitnehmer von sich aus eine umfassende, rasche und kontinuierliche Informationspflicht gegenüber seinem Arbeitgeber hat. Der Entscheid kann daher bei der Beurteilung von Informationspflichten des Arbeitnehmers herangezogen werden.

Kommt ein Arbeitnehmer seiner Informationspflicht mehrfach nicht nach und wurden ihm bereits arbeitsrechtliche Konsequenzen angedroht, so kann dies eine fristlose Entlassung rechtfertigen. Unter Umständen kann daher eine unterbliebene Einreichung von Arztzeugnissen eine fristlose Kündigung rechtfertigen.

Der Bundesgerichtsentscheid ist jedoch kein Leiturteil und in gewisser Hinsicht ein Spezialfall, da es sich um einen kleinen Betrieb handelte, welcher im Zeitpunkt der fristlosen Kündigung in einer arbeitsintensiven Phase war. Eine unterbliebene Einreichung von Arztzeugnissen vermag daher nicht in jedem Fall eine fristlose Kündigung zu rechtfertigen. Vielmehr sind stets die konkreten Umstände des Einzelfalles zu beachten.

Autoren: Andreas Lienhard (Partner), Seraina Würgler (Associate), Daniel Morbach (Junior Associate)

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