BGer 4A_368/2023 vom 19. Januar 2024: Ordentliche Kündigung nach interner Untersuchung | Pestalozzi Attorneys at Law

BGer 4A_368/2023 vom 19. Januar 2024: Ordentliche Kündigung nach interner Untersuchung

Key takeaways

  • Gemäss Bundesgericht kommen die strafprozessualen Garantien bei internen Untersuchungen der Arbeitgeberin nicht zur Anwendung. Dies bedeutet insbesondere das Folgende:
    (i) Die Arbeitgeberin müsse den beschuldigten Arbeitnehmer nicht vorgängig zu dessen Anhörung über Zweck und Inhalt der ersten Befragung informieren.
    (ii) Die Kündigung sei auch nicht deshalb missbräuchlich, weil sich der beschuldigte Arbeitnehmer nicht von einer Vertrauensperson habe begleiten lassen können. Dies gelte selbst dann, wenn das anwendbare interne Reglement dem Arbeitnehmer das Recht auf Begleitung durch eine Vertrauensperson gewährt. Obwohl das Bundesgericht dies nicht explizit sagte, dürfte dies umso mehr auch für die anwaltliche Vertretung gelten.
    (iii) Die Arbeitgeberin müsse dem beschuldigten Arbeitnehmer die Vorwürfe hinreichend präzise beschreiben. Jedoch müsse sie dem Arbeitnehmer nicht sämtliche Details (insb. Personalien der mutmasslich belästigten Personen) wie in einem Strafverfahren mitteilen.

  • Das Bundesgericht sprach sich erneut für die Kündigungsfreiheit aus. Verdachtskündigungen seien zulässig, solange die Arbeitgeberin genügend Abklärungen tätigt und diese den Verdacht erhärten. Dies gelte selbst dann, wenn sich der Verdacht später als unbegründet erweisen sollte. Die Arbeitgeberin sei vor der Kündigung eines Arbeitnehmers nicht verpflichtet, den Wahrheitsgehalt der gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu beweisen.

  • Die Arbeitgeberin darf somit den beschuldigten Arbeitnehmer nicht leichtfertig und ohne vernünftigen Grund entlassen. Dies ist das Grundprinzip, woran sich die interne Untersuchung der Arbeitgeberin zu orientieren hat. Dies geht jedoch nicht soweit, dass die Arbeitgeberin bei der internen Untersuchung strafprozessuale Garantien zu beachten hätte, wie oben erwähnt.

Was ist geschehen?

Der Arbeitnehmer war seit dem 1. November 2010 bei einer Bank mit einem Pensum von 100% im Rang eines Direktors tätig. Sein monatlicher Bruttolohn betrug zuletzt CHF 20'000. Am 29. August 2019 erhielt die betriebsinterne Ombudsfrau für Verhalten und Ethik eine Meldung einer Mitarbeiterin bezüglich sexueller Belästigungen durch den Arbeitnehmer. In der Folge befragte die Arbeitgeberin im Rahmen einer internen Untersuchung – nebst der betroffenen Mitarbeiterin – weitere Personen im Umfeld des Arbeitnehmers. Zudem durchsuchte sie einen Teil der elektronischen Kommunikation des Arbeitnehmers hinsichtlich dessen Äusserungen über die angeblich belästigte Mitarbeiterin. Sodann hörte sie den Arbeitnehmer an und stellte ihm das Protokoll der Anhörung zur Durchsicht zu. Der Arbeitnehmer nahm daran diverse Änderungen vor. Nach der Anhörung des Arbeitnehmers kam die Arbeitgeberin zum Schluss, dass dessen Aussagen wenig glaubhaft seien und im Widerspruch zu den Aussagen der anderen befragten Mitarbeitenden stünden. Die Arbeitgeberin war der Ansicht, dass die von der anzeigenden Mitarbeiterin und von den übrigen Mitarbeitenden beschriebenen, unangemessenen Verhaltensweisen mit grosser Wahrscheinlichkeit stattgefunden hätten. Im Untersuchungsbericht wurde deshalb die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen den Arbeitnehmer empfohlen. Die zuständige Disziplinarstelle beschloss schliesslich die ordentliche Kündigung des Arbeitnehmers. Die Bank kündigte dem Arbeitnehmer am 23. Oktober 2018 auf den 31. Januar 2019, wobei sich das Arbeitsverhältnis in Folge Krankheit bis zum 31. August 2019 verlängerte.

Der Arbeitnehmer focht diese Kündigung an, weil er die Art und Weise derselben als missbräuchlich erachtete. Das Arbeitsgericht Zürich verneinte die Missbräuchlichkeit der Kündigung. Demgegenüber erachtete das Obergericht des Kantons Zürich die Kündigung als missbräuchlich und verpflichtete die Arbeitgeberin zu einer Entschädigung wegen missbräuchlicher Kündigung in Höhe von CHF 70'000. Die Arbeitgeberin legte gegen dieses Urteil erfolgreich Beschwerde in Zivilsachen beim Bundesgericht ein.

Was erwog und entschied das Bundesgericht?

Strittig war, ob die ordentliche Kündigung der Arbeitgeberin missbräuchlich im Sinne von Art. 336 OR war.

Keine Anwendbarkeit der strafprozessualen Garantien

Die Vorinstanz gelangte in Anlehnung an strafprozessuale Garantien zum Schluss, dass die Kündigung durch die Arbeitgeberin missbräuchlich erfolgt sei.

Das Bundesgericht verneinte im vorliegenden Fall die Anwendung der strafprozessualen Garantien auf eine interne Untersuchung einer Arbeitgeberin. Die Rechtsverhältnisse des Strafrechts und des Privatrechts seien nämlich grundlegend unterschiedlich. Die Parteien des Arbeitsvertrags gingen freiwillig ein personenbezogenes Dauerschuldverhältnis ein. Im Strafverfahren werde die beschuldigte Person dagegen unabhängig von ihrem Willen der Strafgewalt des Staates unterworfen. Zudem würden dem Arbeitnehmer durch das Strafverfahren einschneidende Grundrechtseingriffe drohen, wogegen die Rechtsfolge eines Verfahrens betreffend den arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz im schlimmsten Fall eine Kündigung unter Einhaltung der vertraglichen Kündigungsfrist sei.

Die Vorinstanz hatte der Arbeitgeberin vorgeworfen, dem Arbeitnehmer nicht vorgängig zum ersten Gespräch mittgeteilt zu haben, worum es bei den Vorwürfen gehe. Gemäss Bundesgericht würde eine solche vorgängige Information sogar über die Anforderungen des Strafprozessrechts hinausgehen. So müsse die beschuldigte Person gemäss Art. 158 Abs. 1 lit. a StPO erst zu Beginn der Einvernahme auf die Einleitung eines Verfahrens gegen sie und dessen Gegenstand aufmerksam gemacht werden. Die Vorinstanz habe die Anforderungen an die interne Untersuchung überspannt, indem sie verlangte, dass die Arbeitgeberin den Arbeitnehmer vorgängig über Zweck und Inhalt des Gesprächs hätte informieren müssen. Zudem habe der Arbeitnehmer das Gesprächsprotokoll korrigieren und eine separate schriftliche Stellungnahme abgeben können.

Der zweite Vorwurf der Vorinstanz bestand darin, dass der Arbeitnehmer beim Gespräch nicht durch eine Vertrauensperson begleitet werden konnte. Allerdings müsse die beschuldigte Person selbst gemäss Strafprozessrecht (Art. 158 Abs. 1 lit. c StPO) erst zu Beginn der ersten Einvernahme auf ihr Recht aufmerksam gemacht werden, eine Verteidigung zu bestellen. Obwohl der Arbeitnehmer gemäss einem internen Reglement das Recht gehabt hätte, sich von einer Vertrauensperson vertreten zu lassen, stelle das Fehlen einer Vertrauensperson beim ersten Konfrontationsgespräch keinen derart gravierenden Mangel dar, dass von einer missbräuchlichen Kündigung gesprochen werden müsse. Dies gelte umso mehr, als der Arbeitnehmer nicht behauptete, ein weiteres Gespräch unter Anwesenheit einer Vertrauensperson verlangt zu haben.

Zuletzt äusserte sich das Bundesgericht zur Erwägung der Vorinstanz, die Arbeitgeberin habe den Arbeitnehmer nicht hinreichend über die Vorwürfe aufgeklärt. Das Bundesgericht widersprach dieser Auffassung, welche sich an das strafprozessuale Anklageprinzip lehnte. Eine interne Untersuchung einer Arbeitgeberin sei nämlich nicht mit einer staatlichen Strafuntersuchung zu vergleichen. Zudem bestehe ein Zielkonflikt zwischen dem legitimen Selbstverteidigungsrecht des beschuldigten Arbeitnehmers und dem Schutz der meldenden Person. Die Arbeitgeberin dürfe daher dem beschuldigten Arbeitnehmer die Personalien der die Belästigung meldenden Personen nicht mitteilen. Schliesslich seien die Vorwürfe nicht völlig vage geblieben. Die Arbeitgeberin habe dem beschuldigten Arbeitnehmer mitgeteilt, dass es sich um einen Vorfall bei einem Firmenanlass im November 2017 handle, im Rahmen dessen er Mitarbeiterinnen in ungebührlicher Weise berührt haben soll. Weiter habe sie ihm konkrete Fragen gestellt zu Aussagen, welche ihm zugerechnet wurden. Nach Ansicht des Bundesgerichts hat die Arbeitgeberin dem Arbeitnehmer dadurch die Vorwürfe hinreichend präzis präsentiert, wenn man sie an den Anforderungen an eine interne Untersuchung messe.

Kündigungsfreiheit und Verdachtskündigungen

Das Bundesgericht hielt im vorliegenden Urteil erneut fest, dass Verdachtskündigungen grundsätzlich zulässig seien, selbst wenn sich der Verdacht später als unbegründet erweisen sollte. Die Arbeitgeberin müsse das Zutreffen der Vorwürfe nicht beweisen. Der Kündigungsfreiheit sei lediglich im Missbrauchsverbot eine Grenze gezogen. So liege eine missbräuchliche Verdachtskündigung dann vor, wenn die Arbeitgeberin keine genügenden Abklärungen tätigt oder ihre Abklärungen den Verdacht nicht erhärten und die Arbeitgeberin die Kündigung leichtfertig und ohne vernünftige Gründe ausspricht. Vorliegend habe die Arbeitgeberin jedoch umfangreiche Abklärungen durch ein eigens dafür vorgesehenes Team getätigt, worauf sich der Verdacht gegen den Arbeitnehmer erhärtet hatte.

Das Bundesgericht stufte die Kündigung im vorliegenden Fall infolgedessen nicht als missbräuchlich ein und hiess die Beschwerde der Arbeitgeberin gut. Es kritisierte die Vorinstanz dafür, dass diese von der Arbeitgeberin teilweise mehr als von einer Strafverfolgungsbehörde verlangt hätte.

Wieso ist dieser Entscheid wichtig?

Der vorliegende Entscheid des Bundesgerichts verneint deutlich die Anwendung strafprozessualer Garantien auf interne Untersuchungen durch eine Arbeitgeberin. Obwohl das Bundesgericht den Entscheid in Vollbesetzung durch fünf Richter fällte, soll der Entscheid nicht in die Sammlung von Leitentscheiden aufgenommen werden. Dies kann man als Anhaltspunkt sehen, dass auch gemäss Bundesgericht die Umstände des Einzelfalls weiterhin zentral sind. So liess das Bundesgericht durchblicken, dass auch bei einer arbeitsrechtlichen internen Untersuchung gewisse "Spielregeln" eingehalten werden und die Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden müssen.

Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich für Arbeitgebende dennoch nicht, sämtliche strafprozessualen Grundsätze zu "vergessen". Vielmehr sollten sie eine dem Einzelfall gerechte Vorgehensweise wählen. Beispielsweise sollten sie darauf achten, dass sie die Vorwürfe der beschuldigten arbeitnehmenden Person genügend konkret kommunizieren (ohne den Persönlichkeitsschutz der meldenden Person zu beeinträchtigen) und ihm/ihr auf geeignete Weise das "rechtliche Gehör" gewähren.

Autorinnen/Autoren: Andreas Lienhard (Partner), Dario Marzorati (Senior Associate), Nicole Sutter (Associate), Luise Locher (Junior Associate)

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