BGer 4A_189/2023 vom 4. Oktober 2023: Kündigung des Arbeitsverhältnisses nach einer Verwarnung ohne erneuten Verstoss
Key takeaways
- Arbeitgeber sprechen in der Praxis nicht selten Verwarnungen aus.
- Sie sollten jedoch verhindern, dass der Arbeitnehmer nach Erhalt der Verwarnung geltend machen kann, ihm dürfe nur bei einem erneuten Verstoss gekündigt werden. Aus diesem Grund sollten sie sich in der Verwarnung alle Rechte vorbehalten, inklusive des Rechts, das Arbeitsverhältnis jederzeit unter Beachtung der vertraglichen Kündigungsfrist oder fristlos zu kündigen.
- Sollte ein solch expliziter Vorbehalt vergessen gehen, kann der hier besprochene Bundesgerichtsentscheid helfen. Gemäss diesem ist eine Kündigung nach einer Verwarnung ohne erneuten Zwischenfall zwar unangebracht, aber grundsätzlich nicht missbräuchlich. Etwas anderes könnte nur gelten, wenn der Arbeitnehmer im Vertrauen auf den Weiterbestand seiner Anstellung Investitionen tätigte (z.B. vom Ausland in die Schweiz zog), welche dann auf Grund der Kündigung vergebens waren.
Was ist geschehen?
Die bei der B AG angestellte Arbeitnehmerin hatte seit Ende 2017 oder Anfang 2018 ernsthafte Probleme mit übermässigem Alkoholkonsum. Dies wirkte sich auf ihre Arbeit aus und war auch Gegenstand eines Gesprächs mit der Geschäftsleitung. Ab Juli 2018 war sie aufgrund einer depressiven Störung und gesundheitsschädlichen Alkoholkonsums in psychiatrischer Behandlung.
Die Arbeitgeberin verwarnte die Arbeitnehmerin am 11. September 2018 schriftlich, nicht mehr betrunken am Arbeitsplatz zu erscheinen, sonst drohe ihr eine Kündigung. Unmittelbar darauf folgend, nämlich im Gespräch vom 12. oder 13. September 2018, informierte die Geschäftsleitung die Arbeitnehmerin, dass sie das Arbeitsverhältnis beenden möchte. Als die Arbeitnehmerin am 1. November 2018 an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte, übergab die Arbeitgeberin ihr die schriftliche Kündigung mit Wirkung per 28. Februar 2019.
Am 25. August 2020 reichte die Arbeitnehmerin Klage gegen die Arbeitgeberin ein. Sie klagte unter anderem auf Bezahlung einer Entschädigung wegen missbräuchlicher Kündigung und einer Gratifikation. Das Regionalgericht verurteilte die Arbeitgeberin zur Bezahlung einer Gratifikation von CHF 13'285 (welche die Arbeitgeberin anerkannt hatte). Andere oder weitergehende Anträge wies es hingegen ab. Die Arbeitnehmerin zog dies bis vor das Bundesgericht.
Was erwog das Bundesgericht?
Das Bundesgericht stellte fest, dass die Arbeitgeberin den Arbeitsvertrag am 1. November 2018 gültig gekündigt hatte. Der vorliegende Rechtsstreit bezog sich daher ausschliesslich auf die Missbräuchlichkeit der Kündigung.
Missbräuchliche Kündigung – Gesetzliche Grundlagen
Ein auf unbestimmte Zeit abgeschlossener Arbeitsvertrag kann gemäss Art. 335 Abs. 1 OR von jeder Partei und ohne besonderen Grund gekündigt werden. Die ordentliche Kündigung eines Arbeitsvertrages ist jedoch missbräuchlich, wenn die kündigende Partei sie wegen eines in Art. 336 Abs. 1 OR aufgeführten Grundes ausspricht. Die Missbräuchlichkeit muss nicht zwangsläufig im Kündigungsgrund liegen, sondern kann auch in den Umständen der Kündigung selbst begründet sein. Die Partei, die den Arbeitsvertrag aus berechtigtem Grund kündigen will, muss ihr Recht rücksichtsvoll ausüben und sich eines voreingenommenen oder irreführenden Verhaltens enthalten. Ein Verhalten, das lediglich unangemessen oder einer etablierten Geschäftsbeziehung unwürdig ist, reicht hingegen nicht aus, um die Missbräuchlichkeit einer Kündigung zu bejahen.
Argument der Arbeitnehmerin – Widersprüchliches Verhalten der Arbeitgeberin
Die Arbeitnehmerin machte geltend, die Arbeitgeberin habe widersprüchlich gehandelt und kritisierte daher das Vorgehen der Arbeitgeberin (und nicht die Gründe für die Kündigung). Die Arbeitnehmerin behauptete, sie habe sich auf den Inhalt der Warnung vom 11. September 2018 verlassen. Die Warnung hätte in gewisser Weise einen Schlussstrick unter die vergangenen Ereignisse gezogen; die Arbeitgeberin habe mit dem Schreiben das Geschehene sanktioniert, aber gleichzeitig auch bekräftigt, dass sie das Arbeitsverhältnis nicht kündigen wolle. Nur ein erneutes Auftreten von Trunkenheit am Arbeitsplatz hätte sie dazu veranlassen können, diese Entscheidung zu revidieren. Ein solcher Rückfall sei jedoch nicht eingetreten.
Nicht missbräuchliche ordentliche Kündigung aufgrund Vertrauensverlusts
Das Arbeitsverhältnis wurde jedoch nicht fristlos gekündigt, weil die Arbeitnehmerin erneut betrunken am Arbeitsplatz erschienen war. Es handelte sich vielmehr um eine ordentliche Kündigung. Die Arbeitgeberin begründete diese damit, dass sie das Vertrauen in die Fähigkeiten und den Willen der Arbeitnehmerin, ihre Abhängigkeit zu überwinden, verloren habe. Die Arbeitnehmerin datierte diese Entscheidung auf den 12. oder 13. September 2018. Das Bundesgericht stellt fest, dass die Arbeitgeberin zwar ihre Absicht, den Vertrag zu kündigen, an einem dieser beiden Daten angekündigt hatte. Allerdings setzte sie diese Absicht erst am 1. November 2018 mit der Übergabe einer formellen Kündigung an die Arbeitnehmerin um. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass zwar die Art und Weise, wie die Arbeitgeberin handelte, in der Tat auffällig oder sogar unangemessen gewesen sei. Insbesondere sei es merkwürdig, eine Verwarnung zu verschicken, um im nächsten Moment die Absicht anzukündigen, das Arbeitsverhältnis bald zu beenden. Trotzdem sei die nachfolgende Kündigung grundsätzlich nicht missbräuchlich im Sinne von Art. 336 OR, sofern die Arbeitnehmerin nicht im Vertrauen auf den Weiterbestand des Arbeitsverhältnisses Investitionen tätigte (indem sie z.B. aus dem Ausland in die Schweiz umzog). Die Arbeitnehmerin machte vorliegend nicht geltend, sie habe nach Erhalt der Verwarnung vom 11. September 2018 solche Investitionen getätigt. Im Gegenteil, sie begann unmittelbar mit der Suche nach einer neuen Anstellung. Dementsprechend erscheine die Vorgehensweise der Arbeitgeberin zwar als unangebracht, aber nicht missbräuchlich.
Wieso ist der Entscheid wichtig?
Verwarnungen sind in der Praxis ein wichtiges und häufig anzutreffendes Mittel, um Arbeitnehmer wegen eines Fehlverhaltens zu disziplinieren und das Fehlverhalten zu dokumentieren. Die Arbeitgeberin sollte jedoch sicherstellen, dass sie mit der Verwarnung ihre künftigen Handlungsmöglichkeiten nicht unnötig einschränkt; sie sollte dem Arbeitnehmer keine Argumente liefern, um eine spätere Kündigung als missbräuchlich anzufechten. Die Arbeitgeberin kann dies einfach verhindern, indem sie einen entsprechenden Vorbehalt in die Verwarnung aufnimmt.
Autoren: Andreas Lienhard (Partner), Martina Herzog (Associate), Katja Stehrenberger (Junior Associate)
Keine Rechts- oder Steuerberatung
Dieses Legal Update gibt einen allgemeinen Überblick über die Rechtslage in der Schweiz und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es stellt keine Rechts- oder Steuerberatung dar. Falls Sie Fragen zu diesem Legal Update haben oder Rechtsberatung hinsichtlich Ihrer Situation benötigen, wenden Sie sich bitte an Ihren Ansprechpartner bei Pestalozzi Rechtsanwälte AG oder an eine der in diesem Legal Update erwähnten Kontaktpersonen.
© 2023 Pestalozzi Attorneys at Law Ltd. Alle Rechte vorbehalten.