BGer 1C_595/2023 vom 26. März 2024: Kein Kündigungsschutz bei arbeitsplatzbezogener Arbeitsunfähigkeit | Pestalozzi Attorneys at Law

BGer 1C_595/2023 vom 26. März 2024: Kein Kündigungsschutz bei arbeitsplatzbezogener Arbeitsunfähigkeit

05.07.2024

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Key takeaways

  • Im Falle einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit gelangen die Sperrfristen nach Art. 336c OR nicht zur Anwendung. Die Arbeitgeberin kann daher das Arbeitsverhältnis auch während der arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit kündigen. Das Bundesgericht bestätigt dies in einem neuen Entscheid (kein Leiturteil).

  • Eine arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit bedeutet, dass der betroffene Arbeitnehmer nur hinsichtlich seiner bisherigen Stelle arbeitsunfähig ist. Für alle anderen Stellen ist der Arbeitnehmer arbeitsfähig. Der Grund für eine arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit kann beispielsweise in einem Konflikt oder Mobbing am Arbeitsplatz liegen. Mobbing führt aber nicht per se zu einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit. Das Bundesgericht vertritt ausserdem eine strenge Definition von Mobbing. Es bejaht Mobbing nur in krassen Konfliktsituationen, welche über einen einfachen Konflikt am Arbeitsplatz hinausgehen.

  • Bei einer allgemeinen Arbeitsunfähigkeit, welche sich nicht nur auf die bisherige Stelle beschränkt, kommen die Sperrfristen stets uneingeschränkt zur Anwendung. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn der Arbeitnehmer sich ins Krankenhaus begibt oder ein Burnout erleidet, welches zu einer Depression führt. Alsdann kann die Arbeitgeberin nicht kündigen.

  • In der Praxis ist daher die Qualifikation der Arbeitsunfähigkeit als arbeitsplatzbezogen oder allgemein von grosser Relevanz. Gemäss unserer Ansicht hat daher der untersuchende Arzt im Arztzeugnis festzuhalten, ob die Arbeitsunfähigkeit arbeitsplatzbezogen oder allgemein ist.

Was ist geschehen?

A. (Arbeitnehmer) war seit 1997 als Ausbilder bei der Schweizer Armee, zuletzt als Oberstleutnant im Stab des Ausbildungskommandos (Arbeitgeber), tätig.

Seit 2015 übte der Arbeitnehmer eine Nebentätigkeit als Vorstandsmitglied des Vereins zur Unterstützung, Verwaltung und Förderung der Patrouille des Glaciers aus, welche er dem Arbeitgeber erst im Jahr 2021 meldete.

Die falschen bzw. unvollständigen Angaben des Arbeitnehmers über seine Nebentätigkeit sowie weitere Verfehlungen verschlechterten das Vertrauensverhältnis. Der Arbeitgeber teilte dem Arbeitnehmer am 1. September 2021 mit, das Arbeitsverhältnis ordentlich per 31. März 2022 künden zu wollen. Der Arbeitnehmer war daraufhin rückwirkend ab dem 25. August 2021 zunächst 50% und ab dem 2. September 2021 100% arbeitsunfähig.

Schliesslich kündigte der Arbeitgeber den Arbeitsvertrag mit Beschluss vom 25. Mai 2022 ordentlich per 30. November 2022 und stellte den Arbeitnehmer per sofort frei. Der Arbeitgeber begründete die Kündigung vor allem mit der jahrelangen systematischen und offenkundig gezielt falschen Informationen des Arbeitnehmers über seine Nebentätigkeit sowie dem dabei erzielten beträchtlichen Nebenverdienst.

Der Arbeitnehmer erhob gegen diese Kündigung ohne Erfolg Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht und anschliessend ebenfalls erfolglos beim Bundesgericht. Er forderte unter anderem Lohnfortzahlung aufgrund des Kündigungsschutzes ab dem 1. Dezember 2022.

Was erwog das Bundesgericht?

Das Bundesgericht hatte nun zu beurteilen, ob die Arbeitgeberin dem Arbeitnehmer die Kündigung zur Unzeit im Sinne von Art. 31a Abs. 1 der Bundespersonalverordnung (BPV) zustellte, da dieser im Zeitpunkt der Kündigung arbeitsunfähig war.

Das Bundesgericht wendet die Bundespersonalverordnung (BPV) an, da es sich um ein öffentlich-rechtliches Arbeitsverhältnis (Angestellter bei der Schweizerischen Armee, Bund) handelte. Gleichzeitig weist das Bundesgericht daraufhin, dass diese Grundsätze gestützt auf Art. 336c OR für das privatrechtliche Arbeitsverhältnis ebenfalls gelten.

Art. 336c OR regelt den zeitlichen Kündigungsschutz, die sog. Sperrfristen. Danach ist ein Arbeitnehmer während bestimmten Zeitperioden vor einer Kündigung durch den Arbeitgeber geschützt. Ist der Arbeitnehmer beispielsweise ohne eigenes Verschulden durch Krankheit ganz oder teilweise an der Arbeitsleistung verhindert (arbeitsunfähig), so ist er im 1. Dienstjahr während 30 Tagen, ab dem 2. bis und mit 5. Dienstjahr während 90 Tagen und ab dem 6. Dienstjahr während 180 Tagen vor einer Kündigung geschützt (Art. 336c Abs. 1 lit. b OR).

Art. 336c Abs. 1 lit. b OR ist im Falle einer Krankheit nur dann nicht anwendbar, wenn die Gesundheitsbeeinträchtigung derart unbedeutend ist, dass der Arbeitnehmer trotzdem eine neue Arbeit antreten kann. Nach der Rechtsprechung liegt dies vor, wenn die Arbeitsunfähigkeit auf den Arbeitsplatz beschränkt ist. Dies kann beispielsweise bei einer Konfliktsituation am Arbeitsplatz der Fall sein. Eine Kündigung ohne Anwendung der Sperrfrist ist somit bei einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit möglich. Bei einer allgemeinen Arbeitsunfähigkeit, bei welcher der Arbeitnehmer auch an anderen Arbeitsorten nicht arbeiten kann, kommen die Sperrfristen hingegen uneingeschränkt zur Anwendung. 

Im Zusammenhang mit einem Konflikt am Arbeitsplatz erwähnt das Bundesgericht zudem die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers nach Art. 328 OR. Danach hat der Arbeitgeber Massnahmen zum Schutz der Persönlichkeit sowie der Gesundheit des Arbeitnehmers zu ergreifen. Mobbing stellt beispielsweise eine Verletzung dieser Fürsorgepflicht dar. 

Das Bundesgericht vertritt jedoch eine restriktive Definition von Mobbing: Mobbing gilt als eine Reihe von feindlichen Äusserungen und/oder Handlungen, die über einen längeren Zeitraum hinweg häufig wiederholt werden und mit denen eine oder mehrere Personen versuchen, eine andere Person am Arbeitsplatz zu isolieren, auszugrenzen oder sogar versuchen, sie von ihrem Arbeitsplatz zu entfernen. Das Opfer befindet sich oft in einer Situation, in der jede einzelne Handlung unter Umständen als zulässig zu beurteilen ist, jedoch die Gesamtheit der Handlungen zu einer Destabilisierung des Opfers bis hin zu dessen Entfernung vom Arbeitsplatz führen kann. Ein Arbeitsplatzkonflikt, unvereinbare Charaktere oder ein schlechtes Arbeitsklima sind noch kein Mobbing.

Das Bundesgericht erwog im vorliegenden Fall, dass die Arbeitsunfähigkeit eng mit der Arbeitsstelle des Arbeitnehmers verbunden war. In den medizinischen Akten wurde von einer Angst- und Depressionsstörung gesprochen, ausgelöst durch problematische Situationen am Arbeitsplatz. Demnach beeinflussten nicht-medizinische Faktoren, d.h. Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, den Gesundheitszustand.

Zwar können die Isolation sowie Ausgrenzung, wie sie der Arbeitnehmer vorgetragen hat, Indizien für Mobbing darstellen. Allerdings erreichten sie im konkreten Fall nicht die nötige Konfliktschwere, um Mobbing anzunehmen. Da kein Mobbing vorlag, hat der Arbeitgeber seine Fürsorgepflicht zur Verhinderung von Mobbing vorliegend nicht verletzt. Letztlich lag ein einfacher Konflikt am Arbeitsplatz vor, welcher arbeitsplatzbezogen war. Entsprechend kamen die Sperrfristen nach Art. 31a Abs. 1 BPV (für das privatrechtliche Verhältnis gilt Art. 336c OR) nicht zur Anwendung und der Arbeitgeber durfte ordentlich und ohne Sperrfristen kündigen.

Wieso ist dieser Entscheid wichtig?

Mit diesem Entscheid bestätigt das Bundesgericht erstmals, dass bei einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit die Sperrfristen aus Art. 336c OR nicht zur Anwendung gelangen. Der Grund liegt darin, dass der Arbeitnehmer uneingeschränkt für andere Arbeitgeber tätig sein kann. Es ist daher nicht davon auszugehen, dass die arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit die Chancen des Arbeitnehmers, eine neue Stelle zu finden, schmälert. Der Arbeitnehmer ist vollumfänglich fähig, für einen neuen Arbeitgeber zu arbeiten. Wichtig in der Praxis ist daher die Qualifikation der Arbeitsunfähigkeit als allgemein oder arbeitsplatzbezogen. Nach der hier vertretenen Ansicht haben daher Ärzte auf den Arztzeugnissen festzuhalten, ob die Arbeitsunfähigkeit arbeitsplatzbezogen oder allgemein ist. Dies ist zur Beurteilung der rechtlichen Situation erforderlich, genauso wie der Grad der Arbeitsunfähigkeit und die Verursachung der Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit oder Unfall (welche bereits heute im Arztzeugnis regelmässig angegeben werden).

Der Bundesgerichtsentscheid stimmt mit der Praxis verschiedener Gerichte der Deutschschweiz und des Bundesverwaltungsgerichts überein, widerspricht jedoch der Praxis zahlreicher Gerichte in der Westschweiz.

Ebenfalls vertritt das Bundesgericht eine strenge Definition von Mobbing. Zu bedenken ist, dass Mobbing nicht per se zu einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit führt. Es ist auch denkbar, dass Mobbing zu einer Depression führt und der Arbeitnehmer dadurch allgemein arbeitsunfähig ist.

In der Praxis kann sich ausserdem die Frage nach der Lohnfortzahlung stellen. Diesbezüglich hat sich das Bundesgericht im aktuellen Entscheid nicht geäussert. Eine allfällige Verlängerung der Kündigungsfrist ist mit der Lohnfortzahlungspflicht der Arbeitgeberin nicht koordiniert und daher von dieser abzugrenzen. Die Lohnfortzahlung richtet sich nach Art. 324a OR. Selbst wenn die Arbeitsunfähigkeit arbeitsplatzbezogen ist, hat der Arbeitnehmer i.d.R. trotzdem Anspruch auf Lohn.

Autoren: Andreas Lienhard (Partner), Martin L. Mueller (Partner), Christian Roos (Partner), Seraina Würgler (Associate)

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